Die Kraft des Verzeihens liegt im Gewinn für den, der verzeihen kann.
Wer in der Lage ist, zu verzeihen, ist kein Opfer mehr, er ist in der (Ver)Gebenden Position, also einem Täter in Wahrheit überlegen.
Wer verzeihen kann, der akzeptiert, was war – ohne damit jetzt und in Zukunft zu hadern oder sich selbst zu beschimpfen, sich Vorwürfe zu machen, sich mit Schuldgefühlen zu traktieren oder verbittert zu sein.
Verzeihen heißt nicht Vergessen.
Vergessen kann nichts ungeschehen machen.
Und manches, was geschehen ist, ist tatsächlich unverzeihlich!
Es geht also nicht um ein um ein Gutheißen, Entschuldigen oder die Entlastung eines Täters. Es geht um erstarkendes Selbstbewusstsein, um die eigene Würde und die Kontrolle über das Geschehen heute.
Wer hat sich nicht schon einmal im Streit so in die Enge getrieben gefühlt, dass er/sie selbst übertrieben und das Gegenüber verletzt hat?
Aber auch wenn z.B. der Steuerberater eine Frist versäumt hat oder es an anderer Stelle zum Schaden anderer Geld gekostet hat; oder ein Arzt eine falsche Diagnose stellte; oder Eltern sich ausgiebig und oft gestritten haben, Kinder vernachlässigt oder, schlimmer noch, für erwachsene Interessen missbraucht wurden, all das lädt Schuld auf die/den Täter/in.
Es geht beim Verzeihen daher vor allem darum, dass ein Opfer wieder in seine Kraft kommt, nicht krank wird, sich nicht weiter selbst zu blockiert.
Denn jede Reaktivierung der Erinnerung bedeutet Stress, hier oft Dauerstress. Davon wird der, der sich ärgert und stresst krank, nicht der über den man sich ärgert.
Ganz anders, wenn man lernt, aktiv zu gestalten, statt sich passiv ausgeliefert zu fühlen.
Das Gefühl des Ausgeliefertseins wird jedoch als erstes Angebot der Reaktion kaum zu vermeiden sein. Immer mal wieder tauchen im Leben – auf diese oder jene Weise – ähnliche Muster oder Situationen auf, die Erinnerungsnetzwerkte im Gehirn aktivieren. So vom triggernden Thema aktiviert, bietet das Gehirn die zugehörigen Gefühle und Reaktionsmuster an. Wichtig: das Gehirn bietet an!
Das heißt, ich muss diese Angebote nicht realisieren, ich kann lernen, in solchen Situationen anders zu reagieren – und zwar immer dann, wenn ich das verführerische Muster erkenne. Daher ist es wesentlich, sich mit sich und seinen Erfahrungen zu beschäftigen. Je mehr ich weiß, um so besser kann ich die automatisierten Abläuft unterbrechen.
Neurologisch gesehen ist es sinnvoll einen angeregten Erregungszustand früh zu stoppen.
Denn jedes bespielen der vertrauten neuronalen Netzwerke verstärkt deren Stabilität und Reaktion.
Allerdings braucht es zunächst eine Aktivierung des zugehörigen Netzwerkes, um Variationen in die Verarbeitung einer Information einzuführen. Man kommt also um das Risiko, sich zu konfrontieren nicht herum. Da wo nichts aktiv ist, da kann auch nichts aktiv verändert werden.
Auch die neu erlernten und wiederholten anderen Umgehensformen mit sich werden mit der Zeit stabilisiert und automatisiert, während die nicht genutzten Nervenverbindungen reduziert werden.
Dadurch also, dass man ganz bewusst die eigene Opferrolle verlässt, einem Täter / einer Täterin nicht nachträglich noch den Triumpf der Dauerbeschäftigung mit ihm oder ihr gönnt,
also anhaltende Zuwendung schenkt,
werden die mit dem traumatisierenden Erleben verbundenen negativen Gefühle und all seine körperlichen Mitreaktionen abgestreift.
Ich kann nicht sagen, dass das leicht ist.
Dennoch schaffen ca. 75 % aller Menschen es, trotz traumatischer Erlebnisse, gut mit sich zurecht zu kommen.
Den anderen lässt sich nur empfehlen, so früh als möglich, Hilfe zu suchen und über das Schreckliche, was einmal geschehen ist, zu sprechen. Denn mitgeteiltes Leid, reduziert das Leid.
Und zusammen lässt sich manches leichter (er)tragen und zusammen lässt sich vieles schaffen, war für einen allein zu schwer wäre.
Hilfreich ist es, anzuerkennen, dass wir Menschen sind, dass wir alle fehlbar sind, dass wir alle schon mehr oder weniger fatale Entscheidungen getroffen haben. Das gilt dann für Lebende wie für bereits Verstorbene; z.B. auch für Geschwister; für Mütter und Väter die einen nicht geschützt, sondern verletzt, verlassen, verraten haben und sogar für Menschen, die einen misshandelt oder missbraucht haben.
Verstehen und Nachvollziehen können, heißt nicht Gutheißen oder Rechtfertigen.
Aber es macht wenig Sinn, einen ewigen Groll zu hegen. Viel vernünftiger ist es, nach vorne zu schauen und selbst aktiv zu werden.
Manchmal steht einem der sehr emotionalisierende Aspekt der Gerechtigkeit beim Verzeihen im Weg.
Vielleicht gibt es diese Gerechtigkeit nicht, aber wir können uns erlauben, uns selbst wieder gerecht zu werden.
Wir können entscheiden, es so stehen zu lassen und uns nicht jedes Mal darüber aufzuregen, wenn das Thema einem in den Sinn kommt.
Das heißt dann also auch, sich selbst verzeihen können, wenn es mal wieder nicht so klappt, wie wir uns das in der Theorie so schön vorstellen und vorgenommen haben.
Die emotionalen und unbewussten Schaltungen im Gehirn sind halt schneller, als die kognitiv vernunftgesteuerten. Daher: üben, üben, üben, bis auch die neuen Reaktionsweisen automatisiert sind. Dann funktionieren auch die schnell.
Üben wir also uns selbst zuliebe Großzügigkeit.
Bilder: Kostenlose Nutzung unter der Pixabay-Inhaltslizenz (Mohamed_hassan, time out und N.N.)